SENCER ŞAHİN: EIN LEBEN FÜR DIE WISSENSCHAFT
Festschriften stand Sencer Şahin kritisch gegenüber. Er war der Meinung, dass diese Ehre auch Personen zuteilwird, die es eigentlich nicht verdienten. Die inflationäre Zunahme von Veröffentlichungen dieser Art in den letzten Jahren gerade in der Türkei scheint seine Einstellung zu bestätigen. Daher hat er gelegentlich die Ansicht geäußert, dass er für sich selbst keine Festschrift wünsche. Dennoch haben seine Schüler sich dafür entschieden, sein 75. Lebensjahr mit einer ihm gewidmeten Publikation zu feiern.
Es ist eine traurige Fügung des Schicksals, dass Sencer Şahin das Erscheinen des vorliegenden Buches nicht mehr miterlebt. Er starb am 16.10.2014 völlig unerwartet an den Folgen einer Lungenentzündung. Bei seinem Tod war die Redaktionsarbeit an seiner Festschrift nahezu abgeschlossen. Nun erscheint sie als Gedenkschrift für diesen bedeutenden Gelehrten. Die folgenden Zeilen dienen dazu, wichtige Stationen seines Lebens hervorzuheben und seine wissenschaftlichen Leistungen zu würdigen.
Geboren wurde Sencer Şahin am 11.05.1939 in Elbistan (Maraş) als das zweite Kind des Gesundheitsbeamten Ahmet Şahin und seiner Ehefrau Nadire (geb. Türker). Sesshaft wurde die Großfamilie (es folgten fünf Geschwister nach) nirgends, da der Vater in regelmäßigen Abständen versetzt wurde. Das mag am nonkonformistischen Naturell des Vaters gelegen haben, welches ihm Probleme mit der Obrigkeit und damit auch immer wieder Versetzungen in rückständige Provinzstädte im Osten des Landes einbrachte. Sencer Şahin verbrachte deshalb seine Jugendjahre in Lice (Diyarbakır), Pertek (Elazığ), İliç (Erzincan), Refahiye (Erzincan) und Erzurum. Das Gymnasium besuchte er zeitweise bei Verwandten in Izmir und legte das Abitur in Konya ab (1960).
Die Hinwendung zur klassischen Antike kam während seines Militärdienstes (1960–1962), den er als einen wichtigen Wendepunkt in seinem Leben betrachtete. Zu den Reformen der damaligen Regierung gehörte es, Abiturabgänger mit didaktischen Fähigkeiten während ihrer Militärzeit als Grundschullehrer einzusetzen. Damit sollte Bildungshilfe in abgelegenen Landesteilen geleistet werden. Sencer Şahin wurde als Dorflehrer nach Germiyan (heute Pınarcık), ein abgelegenes Dorf in der Provinz Niğde, geschickt. Dem Rat eines Vorgesetzten folgend, packte der junge Rekrut in seinen Koffer Bücher mit Übersetzungen von Klassikern vornehmlich der Antike. Diese waren im Rahmen des Reformprogramms, das der Kulturminister Hasan Ali Yücel 1939 eingeleitet hatte, meist aus dem Französischen nachübersetzt worden und waren günstig zu erwerben. In diesem abgelegenen Ort fand der junge Dorflehrer die nötige Muse und den Geschmack an der antiken Literatur. Hier entstand der Wunsch, diese Klassiker auch im Original zu lesen.
Obwohl die Eltern es gern gesehen hätten, dass ihr ältester Sohn Maschinenbauingenieur wird, entschloss sich dieser, Altertumswissenschaften zu studieren. Er immatrikulierte sich im Wintersemester 1962/63 an der Universität Ankara in den Fächern Klassische Philologie, Alte Geschichte und Klassische Archäologie. Die Wahl der Universität war bewusst getroffen, da das Institut für Klassische Philologie das erste seiner Art in der Türkei war und als Prestigeprojekt Atatürks galt. Der erste Lehrstuhlinhaber war Georg Rohde, der 1935 ins Exil ging, nachdem er sich geweigert hatte, sich von seiner jüdisch-stämmigen Frau zu scheiden. Rohde war schon 1949 nach Deutschland zurückgekehrt; seinen Lehrstuhl hatte der in Italien ausgebildete Humanist Suat Sinanoğlu übernommen, während dessen Bruder Samim Sinanoğlu die lateinische Abteilung leitete. Sencer Şahin, der nebenher bei der Post als Telegramm-Beamter arbeitete, um sein Studium zu finanzieren, besuchte auch die Vorlesungen von Halil Demircioğlu, der in römischer Geschichte führend war, als auch von Ekrem Akurgal, der als einer der führenden Archäologen einen hohen internationalen Ruf genoss. Nach Abschluß des Staatsexamens über ein ‘echt’ klassisches Thema (‘Der Tod des Sokrates’) nahm Sencer Şahin im Herbst 1967 an der Prüfung des Erziehungsministeriums teil, das Dissertationsstipendien ins Ausland vergab. Als er das Stipendium erhielt, stellte sich die Frage, in welches Land er sich begeben sollte. Sein Lehrer Suat Sinanoğlu wollte, dass Şahin sein Studium in Italien fortsetzte und sich auf klassische Autoren konzentrierte. Der eher praktisch ausgerichtete Archäologe Akurgal hingegen verwies ihn auf die Epigraphik und rechtfertigte seine Begründung damit, dass es keinen einzigen türkischen Epigraphiker gebe, der die griechisch-römischen Inschriften bearbeiten könne. Diesen Rat hat Şahin sein ganzes Leben lang konsequent befolgt und sich für Deutschland entschieden. Im März 1968 dort angekommen, musste er zunächst ein Jahr in verschiedenen Goethe-Instituten Deutschkurse belegen. In dieser Zeit sah er sich nach einem Betreuer um. Ihm schwebte der in Heidelberg lehrende Christian Habicht vor, der damals an den Inschriften von Pergamon arbeitete und der sich als Althistoriker und Epigraphiker international etabliert hatte. Doch verließ Habicht aus Überdruss über die politischen Verhältnisse den Alten Kontinent und nahm einen Ruf nach Princeton (USA) an, als Şahin noch Deutschkurse besuchte. Bekanntlich hat sich das Verhältnis zwischen Şahin und seinem ‚Wunschbetreuer‘ Habicht zwei Dezennien später verdunkelt, als ersterer einige längst fällige (in den 1950er Jahren von Louis Robert kopierte) Inschriften veröffentlichte, um auf einen Missstand in der epigraphischen Zunft hinzuweisen.
Schließlich ließ sich Şahin 1969 in Münster nieder und wählte als Betreuer Friedrich Karl Dörner, der seit den 1930er Jahren in Bithynien und Kommagene epigraphische Forschungen durchgeführt hatte. Dörner empfahl seinem Schüler, dessen auf der bithynischen Halbinsel begonnenen Arbeiten fortzusetzen. Erste Feldforschungen führten Şahin 1970–72 nach Nikomedeia und dessen Territorium. Seine Beobachtungen fasste er in seiner im Herbst 1973 eingereichten Dissertation ‚Neufunde von antiken Inschriften in Nikomedeia (İzmit) und in der Umgebung der Stadt‘ zusammen. Hier finden sich bereits wichtige Beobachtungen zur historischen Geographie und Topographie, die in seinen künftigen Arbeiten einen wichtigen Platz einnehmen sollten.
Die geplante Rückkehr in die Türkei musste aufgegeben werden, als Ärzte bei seiner Gattin Mualla, mit der er seit 1971 verheiratet war, eine Nierenkrankheit diagnostizierten. Von einer Rückkehr wurde dem Ehepaar abgeraten, da in der Türkei moderne Hämodialyse-Geräte fehlten.
Şahin erhielt 1974–1976 von der Heinrich-Herz-Stiftung ein Stipendium und konnte von der Universität Münster aus seine Arbeiten in Bithynien sowie in Ionien fortführen. Inzwischen hatte sich die Metropole Nikaia mit ihrem großen Hinterland als ein fruchtbares Gebiet erwiesen, wo Şahin bei jährlichen Reisen Hunderte von neuen Inschriften aufnahm, die er in mehreren Bänden der IK-Reihe der Wissenschaft zugänglich machte. Seine 1978 erschienenen ‚Bithynischen Studien/Bithynia İncelemeleri‘ wurden 1981 von der Universität Ankara als Habilitationsschrift angenommen.
Şahins epigraphische Forschungen brachten ihn bald mit Reinhold Merkelbach zusammen, der ihm 1976 an der Universität Köln eine Forschungsstelle verschaffte. Merkelbach hatte Anfang der 1970er Jahre das Forschungsprojekt ‚Inschriften griechischer Städte aus Kleinasien‘ (IK) ins Leben gerufen und erhoffte von Şahin, dass dieser als Einheimischer Zugang zu den epigraphischen Dokumenten des Landes verschaffte. Diese Erwartung hat Şahin erfüllt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit Merkelbach manifestierte sich auch in der Ausbildung von Merkelbach-Schülern zu Epigraphikern, mit denen Şahin Forschungsreisen in die Türkei unternahm. Aus diesen Reisen sind mehrere IK-Bände hervorgegangen (Kios, Prusias ad Hypium, Prusa ad Olympum, Klaudiupolis, Selge). Şahin selbst veröffentlichte in der IK-Reihe, in dessen Herausgebergremium er bis 2003 war, die Inschriftenbände Bithynische Studien, Nikaia, Arykanda und Perge. In diesen Jahren machte er auch einige türkische Wissenschaftler mit der Epigraphik vertraut (namentlich zu nennen sind Ender Varinlioğlu und Mustafa Hamdi Sayar).
Aus der Zusammenarbeit mit Merkelbach ging auch die 1983 gegründete Zeitschrift ‚Epigraphica Anatolica‘ hervor, zu deren Herausgebern Şahin bis zu seiner Rückkehr in die Türkei gehörte. Hier hat er eine Vielzahl von wichtigen Artikeln veröffentlicht. Die 1980er Jahre können als Akme Şahins gelten. Sein Arbeitsgebiet reichte von der Ägäisküste (Erythrai, Teos, Ephesos etc.) bis zum Euphrat (Kommagene). Die Aufnahme neuer epipraphischer Dokumente wurde durch eine von der Antikenverwaltung großzügig verliehene Erlaubnis ermöglicht, welche ihm die Arbeit in mehreren antiken Gebieten (Bithynien, Lykien, Pamphylien, Pisidien, Phrygien und Kommagene) gestattete und die heutzutage in diesem Umfang nicht mehr verliehen wird.
1986 wurde Şahin an der Universität Köln eine Stiftungsprofessur des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft verliehen. Obwohl ihm diese Position die Möglichkeit verschaffte, sich voll der epigraphischen Forschungen zu widmen, entschied sich Şahin nach dem 1989 erfolgten, frühen Tod seiner Frau Mualla in die Türkei zurückzukehren. Sein erklärtes Ziel war es, in seiner in Lehre und Forschung noch rückständigen Heimat Epigraphik als Wissenschaft ausbauen und Schüler ausbilden. Da solche Pläne in etablierten Universitäten schwerer durchsetzbar waren, entschied er sich dafür, seine Ziele in einer erst neu gegründeten Provinzuniversität umzusetzen. Die endgültige Rückkehr verzögerte sich bis ins Jahr 1995, in welchem er einen Ruf an die Universität Antalya annahm und im drauffolgenden Jahr das ‚Institut für Alte Sprachen und Kulturen‘ gründete.
Es folgten harte und aufopferungsvolle Jahre des Aufbaus, die immer wieder auf bürokratischen Widerstand und bei vielen Akademikern auf Unverständnis stießen. Der Rahmen, den er für das neue Institut setzen wollte, war groß: Es sollten unter der Obhut der ‚Klassischen Philologie‘ und der ‚Alten Geschichte‘ eine Reihe selbständiger Abteilungen wie ‚Epigraphie‘, ‚Numismatik‘, ‚Historische Geographie‘, ‚Papyrologie‘ und ‚Byzantinologie‘ gegründet werden, die sowohl in Lehre wie auch in Forschung voll zum Einsatz kommen sollten. Dieser Plan, für den er das Institut für Altertumskunde der Universität Köln als Vorbild nahm, hat sich nicht zuletzt aus Mangel an kompetenten Vertretern dieser Fachrichtungen nur teilweise erfüllt. Auch die erhoffte Zusammenarbeit mit den örtlichen Archäologen scheiterte an persönlichen Differenzen, die teilweise sogar vor Gericht ausgetragen wurden.
Sencer Şahin ist es gelungen innerhalb nur weniger Jahre ein funktionierendes Institut aufzubauen und eine beachtliche Zahl an Schülern auszubilden, die seine wissenschaftliche Arbeit fortsetzen werden. Dies wird man ihm als die größte Leistung seiner akademischen Laufbahn anrechnen dürfen.
Als Lehrer war Şahin besonders streng. Von den Studenten erwartete er ernsthaft, dass sie jeden Tag 16 Stunden Griechisch und Latein lernten, um den Abstand zu den Mitkommilitonen in den westlichen Ländern, die bereits in ihrer voruniversitären Ausbildung mit klassischen Sprachen vertraut wurden, zu verringern. Fleißige Studenten hat er im vollen Umfang gefördert, gegenüber unbegabten und ‚faulen‘ Schülern war er allerdings erbarmungslos.
Şahin begriff seine Arbeit als Epigraphiker, die er mit äußerster Disziplin und Hingabe ausführte, eher als Grundlagenforschung: Durch das Sammeln und Veröffentlichen von Inschriften, auch von scheinbar unbedeutenden Fragmenten, sollte anderen Forschern das Material bereitgestellt werden, um daraus ihre Synthesen und Synopsen zu ziehen. Er selbst war solchen Synthesen gegenüber eher abgeneigt. Nur wenig Sympathie hatte er für solche Forscher übrig, die unter Auslassung der scheinbar zweitrangigen epigraphischen Dokumente sich auf die Bearbeitung der wichtigen Einzeldokumente konzentrierten. Er bezeichnete diese als ‚Rosinenpicker‘.
Sein unbeugsamer Charakter führte in der Türkei zu Schwierigkeiten mit der Bürokratie und dem etablierten akademischen Betrieb. Şahin scheute nicht davor zurück, öffentlich auf Missstände hinzuweisen, und wagte es sogar, einen Kulturminister in einem öffentlichen Brief zu kritisieren. Diese Haltung hat ihm viele Feinde eingebracht, was auch lange Zeit zur Verweigerung von Forschungslizenzen führte.
Şahins Ehrfurcht vor Dokumenten war groß. Daher ging er mit Akademikern (meist Archäologen) besonders streng ins Gericht, wenn diese aus Unkenntnis Dokumente oder historische Tatsachen falsch interpretierten. In zahlreichen Artikeln, die er in bewusst bissigem Ton in seiner Muttersprache verfasste, stellte er ihre Unwissenheit bloß.
Sein letztes großes Forschungsprojekt war die Erforschung des Strassen- und Siedlungssystems im Großraum Antalya, wobei ihm der Stadiasmus von Patara als Grundlage diente. Unvergesslich bleibt meine erste, nunmehr zwei Jahrzehnte zurückliegende Begegnung mit ihm in Münster. Er hatte mich in seine Wohnung eingeladen, wo er mir ein auf Pappkarton mühsam entworfenes Modell des Stadiasmus zeigte und mich dazu einlud, ihm bei der Verwirklichung seiner Pläne in der Türkei zur Seite zu stehen. Zahlreiche, gemeinsam unternommene Reisen in den darauf folgenden Jahren haben zur Klärung mancher historisch-geographische Fragen in Lykien und benachbarten Regionen geführt. Dass wir als die Jüngeren ihm viel verdanken, steht außer Zweifel. Möge er in Frieden ruhen!
Antalya, im Dezember 2014 Mustafa Adak